Juchu, unsere Kanutour stand bevor!
Zugegeben,
so cool wie ein Floostrip ist es vielleicht nicht, aber wir hatten vor,
gleich ein paar Monate auf dem Wasser zu bleiben, würden in Gebiete
fahren, in die man ohne ein Boot gar nicht gelangen könnte, würden für
Tage und Wochen unser Zelt irgendwo aufschlagen, würden Feuer machen zum
kochen, Wanderungen im tiefesten Matsch unternehmen und Tiere sehen die
sich sonst versteckt halten - na wenn das mal keine Abenteuer
versprach!
Jaaks
Schwester Jana nahm uns mit nach "Elva", ein kleiner Ort, ca. eine
Stunde von hier, in der unser Kanu gebaut wurde. Für unser neues
Böötchen ging es also gleich von der Produktionshalle ins Wasser zur
Jungfernfahrt!
Schon von
weitem sah man seinen grünen Po aus dem Kleintransporter ragen, für den
es sichtbar zu gross war, doch der Fahrer liess sich nicht beirren und
während er uns begeistert von einem lilla Kanu erzählte welches jemand
bestellt hatte, fuhr er es uns zu einer geeigneten Stelle um zu
starten.
Mit zwei winzigen
Problemchen wurden wir hier konfrontiert: Erstens schien das Kanu auf
den Bildern vorher grösser als es nun in Realität war - und zweitens
hatten die Männer beim Bauen ausversehen vergessen diese kleine, aber
doch wichtige Klappe vorne einzubauen in der man wenigstens ein paar
Sachen vor dem sicheren Nasswerden schützen kann.
Mit
ordentlich Tieflage und Platzmangel ging es also los und wir mussten
schon nach wenigen Metern alles wieder auspacken und das Kanu über Land
ziehen. Schuld war eine Mühle, die uns den Wasserweg versperrte.
Eine
Angel hatten wir nicht dabei, wollten aber in den nächsten Tagen eine
"Fischfalle" bauen um unseren wohl dürftigen Speiseplan zu verschönern.
Als wir nun ruhig auf dem Wasser herum plätscherten sagte Jaak
plötzlich, er hätte etwas orangenes unter der Wasseroberfläche gesehen.
Wir fuhren zurück und mit einiger Mühe zog Jaak eine Angelschnur aus dem
Wasser die sich in den Seerosen verfangen hatte, schon bald wurde klar:
daran muss sich, nach dem Gewicht zu urteilen, ein echt grosser Fisch
verfangen haben! Und richtig, zappelnd hing er dort und wir konnten
unser Glück kaum fassen, so ohne grosse Mühe eine Abendmahlzeit
geschenkt zu bekommen. Noch an Ort und Stelle nahmen wir ihn aus und
kochten ihn abends im extra mitgebrachten "gusseisernen Ofen-Topf", na
ein bisschen Luxus muss doch sein!
Trotz
Nieselregen war ich plötzlich unglaulich entspannt. Da wir mit der
Strömung fuhren, liess ich das Paddeln einfach sein, legte mich auf das
Gepäck und genoss die wohl schönsten 15 Minuten unserer Kanutour. Direkt
an der Grenze zur Traumwelt holte mich eine Stimme ein die ganz
realistisch erschien, nach ein paar Sekunden konnte ich sie Jaak
zuordnen und da eine gewisse Intensität in seinem "Babsi"- Ruf lag,
drehte ich mich schleunigst um.
Und
da hatten wir den Beweis, dass es die richtige Entscheidung gewesen war
KEIN Floss zu bauen, denn sonst hätte unser Trip bereits hier, nach 2
Stunden Fahrt geendet. Vor uns lagen drei Wasserfälle, nicht etwa
riesige, rauschende Wasserfälle, eher in der Grösse, in der sie sich
über einen lustig machen und sagen: "Haha, du KÖNNTEST es zwar schaffen
uns hinunter zu fahren, aber zu einer Wahrscheinlichkeit von 87,329
Prozent wirst du dabei ins Wasser fallen und auch wenn das Gepäck nicht
wegschwimmen oder untergehen kann, weil es schlauerweise mit einem Seil
ans Kanu gebunden ist, es wird aber doch triefend nass sein und das
würde dann das erste nasse Abenteuer im nassen Nieselregen bedeuten.
Wobei wir wieder beim Thema der vergessenen
"Wasser-kann-nicht-hereinkommen-Klappe" wären...."
Wir
entschieden uns gegen dieses Abenteuer, zumal Wasserfall eins und zwei
viel zu steinig waren um das Boot unbeschadet zu lassen und Wasserfall
drei sowieso irgendwo unter einer Mühle endete, wo wir dann vielleicht
im Dunkeln wochenlang stecken bleiben würden...
Das
bedeutete aber wieder einmal alles aus dem Boot zu laden und viel zu
schwere Taschen, sowie das Kanu, einzeln über Land zu tragen.
Am
Abend fanden wir einen sehr schönen Platz, wie ich fand - wie gemütlich
die kleine Hütte aussah, die extra für Wasserreissende dort gebaut
worden war! Niemals hätte ich da in einem Zelt daneben schlafen wollen!
Das die Mücken freie Bahn hätten, da wir ohne Zelt auch kein
Fliegengitter hätten, das tat ich mit einem Handwinken ab. Würde schon
nicht so schlimm sein!
War
es aber. Und noch viel schlimmer. Im Schlafsack versteckt lagen wir,
dünne Wolldecken auf unseren Gesichtern und trotzdem stachen sie ohne
Gnade hindurch, fanden jede winzige Ecke freie Haut die versehentlich
hervorlugte und traute man sich doch einmal unter der Decke hinweg zu
schielen - da gab es nicht viel mehr zu sehen als eine schwarze Wand,
eine schwarze Wand aus fröhlich und in verschiedenen Tonlagen summende
Mücken. Neben dem "Lärm" war es durch die Decke auf dem Kopf auch noch
so warm, dass mir tatsächlich der Schweiss in Strömen lief und der
Sauerstoff immer wieder knapp wurde, bis ich es nicht mehr aushielt und
mitten in der Nacht einen kleinen Spaziergang machte. Nicht auszuhalten!
Das nennt man Mückenfest angezogen! |
Am nächsten Tag
befanden wir uns noch immer auf demselben Fluss und ich mochte ihn von
allen Flüssen und Seen die wir befuhren am meisten. Alle paar Meter
mussten wir uns nämlich wieder einen Weg bahnen, da ein umgefallener
Baum den Weg versperrte, meist ging es gerade noch so an der rechten
oder linken Seite vorbei. Doch immer wieder geschah es, dass man
zunächst keinen Durchbruch sah. Dann nahmen wir ordentlich Schwung und
mit einem Kratzen an der Unterseite des Bootes schafften wir es über
einen im Wasser liegenden Ast; wir probierten es rückwärts, seitwärts,
vorwärts, lenkten mittendrin so schnell es eben geht um die Ecke und
irgendwann ging es immer weiter. Auch, als wir einmal sogar unsere extra
mitgebrachte Säge auspacken mussten, um dem Baum im Wasser damit zu
Leibe zu rücken, fanden wir einen Ausweg.
Dann kamen wir zu unserem ersten See.
Aber
die Freude darüber liess bald nach, wir suchten den richtigen Ausweg!
Eine Karte von dieser Gegend hatten wir nicht, an unserer letzten
Schlafstätte war eine gewesen und Jaak hatte sich "hinten rechts"
gemerkt. Darauf hielten wir nun zu, sehen kann man ja nicht viel auf
eine solche Entfernung. Doch mitten auf unserem Weg, fiel mir plötzlich
eine Einbuchtung auf der linken Seite auf. Und da es scheinbar nicht
viel zu sehen gab "hinten rechts", sparten wir uns die letzen Meter,
fuhren wieder zurück und kamen tatsächlich durch diese Einbuchtung auf
einen anden See! Aber eigentlich wollten wir ja auf einen Fluss... Da
schien einer zu sein! Ein Stück weiter fuhren wir und ich hatte den wohl
aufregendsten Toilettengang meines Lebens, als ich auf einem kleinen
Fetzen Festland inmitten des Sees ausstieg, welcher zusätzlich ein
Biberdamm war, und jeder Schritt auf scheinbar festes Land auch sehr
schnell in einem Bad inmitten von Schlingpflanzen enden könnte. Aber ich
hatte es einfach nicht mehr aushalten können!
Als
wir ein Stück weiter in dieselbe Richtung gefahren waren, wurde uns
wieder die Aussage "hinten rechts" bewusst und das wir ja links gefahren
waren... Wir beschlossen einen weiteren Umweg in Kauf zu nehmen, fuhren
wieder zurück und fragten sicherheitshalber einen alten Fischer um Rat,
der in seinem kleinen Holzboot sass und die Angel ins Wasser hielt. Es
war gut so! Nicht nur, dass er wohl der erste "Ausländer" war den ich je
traf und der schon mal in "Erfurt" gewesen war, er rief auch extra
seinen Freund an um ihn nach der Richtung zu fragen, denn er selbst war
auch nur Besucher hier.
Seine Aussage: "Hinten rechts" wäre richtig gewesen...
Also fuhren wir den ganzen Weg wieder zurück und durchquerten den See ein weiteres Mal. Aber da war einfach nichts zu sehen... Wieder war ich es, die einen möglichen Fluss fand (man weiss ja nie ob sie gleich hinter der nächsten Kurve enden). Aber wieder war es falsch, da war nur eine Anlegestelle für Boote und weil wir mittlerweile so genervt waren und die Sonne mit voller Kraft auf unsere Köpfe schien, machten wir hier ersteinmal Pause.
Seine Aussage: "Hinten rechts" wäre richtig gewesen...
Also fuhren wir den ganzen Weg wieder zurück und durchquerten den See ein weiteres Mal. Aber da war einfach nichts zu sehen... Wieder war ich es, die einen möglichen Fluss fand (man weiss ja nie ob sie gleich hinter der nächsten Kurve enden). Aber wieder war es falsch, da war nur eine Anlegestelle für Boote und weil wir mittlerweile so genervt waren und die Sonne mit voller Kraft auf unsere Köpfe schien, machten wir hier ersteinmal Pause.
Als
wir uns eine Stunde später wieder auf die Suche nach dem richtigen Weg
begaben, hatte sich an unserem Glück nichts geändert. Hin und her fuhren
wir. Da war eine Reihe von leeren Plastikflaschen die als Bojen
angebracht waren und dahinter sollte der Fluss hinein gehen, aber da war
nichts. Also fuhren wir einfach irgendwo hinein, jede Stelle wo sich
ein paar weniger Seerosen und nicht ganz so viel Schilf befand wurde von
uns abgefahren und immer wieder steckten wir fest und mussten
ordentlich Kraft aufwenden, durch all dieses Gestrüpp hindurch zu
kommen. Dann waren wir so genervt, hatten solch eine schlechte Laune -
das ich schon wieder darüber lachen musste. Aber selbst das konnte Jaak
nicht mehr aufheitern, wir würden wohl für immer hier feststecken,
immerhin hatten wir ja genug Wasser zum trinken... So taten wir einfach
für eine Weile nichts mehr und grummelten.
Und erst als wir dann wieder die Ruder in die Hand nahmen um von vorne zu beginnen und "hinten rechts" weiter zu suchen - da war da plötzlich ein Weg, der vorher ganz gewiss nicht da gewesen war! Und wir fuhren und fuhren, neben uns kein Ufer sondern Schilf, aber nach vielen, vielen Minuten konnten wir endlich sicher sein: Das war der Fluss den wir gesucht hatten!
Und unsere zweite Nacht verbrachten wir nicht weit entfernt von "Tartu", die zweitgrösste Stadt in Estland, in der wir ein paar Tage verbringen wollten.
Zähne putzen |
Eine Menge Gegenwind liess uns am nächsten Tag, für den eigentlichen kurzen Weg nach Tartu, viele Stunden länger brauchen und wir erreichten erst gegen Nachmittag erschöpft und relativ schlecht gelaunt unser Ziel. Wir würden bei Jaaks Halbbruder für die Tage unterkommen, aber mussten ja irgendwo das Kanu lassen! Also hielten wir irgendwo an der Seite des Flusses und fragten an einem recht alternativ aussehendem Haus nach, die Frau erlaubte uns das Kanu vor ihrem Haus zu parken.
Die kleine Holzsauna |
Ein Boot - es stand einfach so in ihrem Garten, an der Seite des Flusses und machte einen unglaublich beeindruckendes Bild! Abenteuerlich, wenn man so etwas gleich vor der Tür hat... |
Das beeindruckt mich sehr muss ich zugeben. Niemand von uns kann sich ein Bild davon malen welche Zustände dort herrschten, wir haben es auf dem Sofa sitzend im Fernsehen angeschaut und dabei Schokolade vernascht, unsere geschockten Ausrufe und vielleicht auch düsteren Gedanken, haben nichts an der Situation geändert oder sie verbessert. Aber da sind doch Menschen die etwas ausgerichtet haben! Niemand könnte die ganze Welt retten, aber schon ein verbundener Fuss und ein paar liebe Worte können wohl in einer solch abstrakten Situation Leben retten oder zumindest ein Stück Lebensfreude und Hoffnung geben...
Ein Mitbringsel aus Haiti |
Einmal passten wir für ein paar Stunden auf sie auf. Das wir nicht die gleiche Sprache sprechen, verstand der 6jährige schwer. "Ma ei rägi esti keelt" - "Ich spreche kein Estnisch" sagte ich in einem fort, nur, um zur Antwort einen estnischen Redeschwall zu erhalten, mit einer Frage am Ende, auf die ich nur noch einmal dasselbe antworten konnte.
Das Mädel ragierte ganz anders - kurz und knapp begann sie mich herum zu kommantieren. "Babsi!" rief sie bestimmend und winkte mit der Hand in die Richtung, in die ich anzutreten hatte. In einem Feld hatte jedes Kind sein eigenes kleines Häuschen gebaut und nun sollte auch ich eines bekommen. Also fingen sie an die schönen grossen Blumen einzeln heraus zu reissen und das Mädel lud mich immer wieder mit ihrer Handbewegung ein mitzumachen, zeigte wie es geht. Aber ich wollte doch nicht, ich fand die Blumen doch schön! Das deutlich zu machen war mir unmöglich und schliesslich stand ich einfach nur daneben, bis sie mir mein "Haus" gebaut hatten, mit einem sehr schönen Torbogen aus zusammen gewickelten Blumen (glücklich, die durften leben!) und einer Toilette links, bei der ich ausgelacht wurde, als ich ausversehen meine Hand hinein hielt um mich abzustützen.
Dann kam Jaak und durfte freundlicherweise mit in meinem Haus wohnen. Mit einem schüchternen Kindergetuschel wurden wir gefragt, wann wir denn "geheiratet hätten" und die Antwort ging in einem kindlichen Kichern unter. Das war noch bevor er "Urr" spielen sollte. "Urr" ist nämlich derjenige, der mit einem lauten Schrei die Kinder erschreckt und sie versucht zu fangen. Wieder etwas gelernt.
Die allabendlichen Fussballspiele genoss ich überraschenderweise ungemein! Ich konnte mich nicht einmal erinnern, wann ich das letzte Mal über einen Bolzplatz gerannt war und die Luft ging mir schnell aus. Aber meine beginnenden Zweifel, dass alle kleinen Jungs ja viel besser spielen als ich, konnte ich nach Jaaks Lob schnell beiseite schieben und hatte eine neues, kleines Hobby.
Hauptsächlich verbrachten wir die Tage mit umherlaufen und Eis essen. Kilometerweit liefen wir, bis wir auch jede kleine Ecke der Stadt gesehen hatten! Denn Jaak hatte selbst 2 Jahre hier gewohnt und arbeitete als Feuerwehrmann. Auch wenn er seine Arbeit nicht wirklich genoss, die Stadt mag er doch viel lieber als Tallinn, weil sie einfach kleiner ist und gemütlich, viele Studenten und junge Leute beherbergt und weil hier noch viele alte Holzhäuschen zu finden sind.
Im ersten Haus in dem Jaak hier damals lebte, wohnte er für ca. 80 Euro im Monat ohne eine Dusche, waschen musste er sich unter dem Wasserhahn im Spülbecken. Die Toilette ist ein Gemeinschaftsplumpsklo für die Wohnungen derselben Etage und befindet sich auf dem Flur. Das interessanteste daran: Wir besuchten das Haus und es hat sich bis heute nichts geändert, und das mitten in der Stadt!
Jaaks erste Wohnung in einem Haus mit Plumpsklo auf jeder Etage und ohne Dusche |
Auf einem unserer Stadtspaziergänge sahen wir eine Frau mittleren Alters auf dem Fussweg liegen.
Ihre Hose war heruntergerutscht, so, dass der Po unbedeckt war und bei näherem Hinschauen fiel auf, dass sie sich ebenfalls erbrochen und in die Hosen gemacht hatte. Ausserdem hatte sie Schwangerschaftsstreifen und scheinbar vor einer Weile ein Kind geboren.
War sie nun einfach nur betrunken? Jaak rüttelte an ihr und rief laut, aber sie liess sich nicht wecken. Ein vorbeikommender Mann nuschelte etwas von epilleptischen Anfällen und sicherheitshalber riefen wir die 110 an, kurz später kamen sie mit dröhnenden Sirenen angefahren und mit dabei war zufällig Jaaks Ex-Kamerad der Feuerwehr. Einmal kurz an der Schulter gerüttelt - und siehe da, sie wachte einfach auf! Betrunken war sie, mehr nicht und wankend stolperte sie davon, natürlich noch immer mit heruntergelassenen Hosen und nicht ohne uns eine Salve aus Schimpfwörtern zuzufeuern weil wir es gewagt hatten, sie von ihrem "gemütlichen" Bett auf zu scheuchen.
Traditionsbier. Nach der vorangegangenen Geschichte denkt man allerdings über das Trinken noch einmal nach... |
Sehr typisch für Estland sind die Märkte überall, auf denen man jegliches Essen frisch bekommen kann. (Fleisch, Fisch, Obst, Milch...) |
Mitten durch die Stadt geht es hinaus aus Tartu |
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