Ungefähr 5 Monate habe ich in Estland verbracht. Es gibt etliche Orte, die mir in Erinnerung bleiben werden, Menschen, die mich zum Denken anregen konnten und Erfahrungen, die mich in meinem Leben in der einen oder anderen Richtung weiter gebracht haben.
Ein schöner Ort, den ich kennen lernen durfte, war "Kloogaranna", ca. 40 km westlich von der Hauptstadt "Tallinn". Jaaks Schwester hat dort mit ihrer kleinen Familie ein Sommerhaus, natürlich auch mit Sauna. In Estland hat ja fast jeder eine Sauna...
Auch der Strand war eine ganz ordentliche Erscheinung, selbst um diese herbstliche Jahreszeit. Hier sah ich auch meine erste und einzige Schlange, diese Eine ist in Estland sogar giftig!
Jaaks Vater hatte vor vielen, vielen Jahren einmal hier als Rettungsschwimmer gearbeitet und unter der Woche in diesem kleinen, nun verfallenen Häuschen gearbeitet und gewohnt.
Mein Lieblingsplatz war aber der kleine Fluss in der Nähe, der so friedlich vor sich hin plätscherte und in den unser Hund "Kanki" nur zu gerne sein Stöckchen geworfen bekam.
Nach ein paar Wochen ging es über Tallinn wieder zurück, auf die Farm der Eltern, im Süden Estlands.
Es war bereits Ende Oktober 2012 und meine kleine Schwester Martina kam mich in ihren 2 Wochen Herbstferien besuchen! Ich war so froh, dass sie kommen würde, endlich ein mir vertrautes Gesicht auf der schönen, aber einsamen Farm!
2 Tage vorher hatte ich unter der Dusche gestanden und, wie so oft in den letzten anderthalb Jahren, war ich beim Haare kämmen wieder einmal am Verzweifeln. Spülungen halfen nicht mehr und auch die Haarkuren waren bald keine Lösung mehr. Sie waren einfach nur noch trocken und kaputt, wohl hauptsächlich von der extremen Sonne in Australien. Warum also nicht alle Haare komplett abrasieren?
Seit anderthalb Jahre dachte ich darüber nach und konnte mich einfach nicht überwinden.
Aber nun konnte ich! Also ging ich zu Jaak in die Küche, er war sofort einverstanden und los gings...
Nein. Ich konnte nicht. Ich lief davon und versteckte mich 10 Minuten in der Ecke.
Sollte ich wirklich eine GLATZE bekommen??? Niemals!
Nach 10 Minuten hatte ich mich wieder gefangen. Vielleicht ja doch? Also setzte ich mich in die Küche
(ein Bad gab es ja nicht...) und tatsächlich - mit dem elektrischen Rasiergerät setzte Jaak an - und schon fielen die ersten Haare zu Boden.
Die erste Strähne war die Schlimmste - ich bekam so eine Panik, dass ich dachte durch zu drehen oder einfach ohnmächtig, mit meinen Haaren zusammen zu Boden zu fallen.
Als mich Jaak bei den nächsten Strähnen dann aber darauf aufmerksam machte, dass es nun sowieso kein Zurück mehr gab, da wurde ich wieder unglaublich ruhig. So war es jetzt also. Ich hatte eine Entscheidung getroffen und in den letzten Jahren ziemlich gut gelernt, mich nicht über getroffene Entscheidungen später zu ärgern, sondern einfach mit ihnen zu leben. Ich wollte ja auch nicht wie ein Punk aussehen - mit langen Haaren auf der Einen, und kurzen Haare auf der anderen Seite.
2009 hatte ich einmal meine Haare glätten lassen. Ich war so geschockt gewesen von dem Resultat am Ende, dass ich schnellstmöglich nach Hause fuhr, um unter fliessendem Wasser meine Locken zurück zu gewinnen.
Nun erwartete ich eine ähnliche Reaktion, aber Nichts kam. Als ich nach 7 Minuten eine ungewöhnliche Kälte am Kopf verspürte und mir Jaak zu guter Letzt einen Spiegel in die Hand drückte - da breitete sich echte Ehrleichterung auf meinem Gesicht auf! Man weiss ja nie, was für eine Beule sich unter den eigenen Haaren verbirgt, aber ich hatte glücklicherweise Keine!
In den nächsten Tagen hatte ich Kopfschmerzen und fror ständig - die beste Jahreszeit hatte ich mir für diesen radikalen Schnitt nicht ausgesucht.
Als meine Schwester kam war ich überglücklich. Ich holte sie vom Bahnhof ab mit einem Hut auf dem Kopf - ich hatte wirklich NIEMANDEN verraten, dass ich seit einigen Tagen keine Haare mehr hatte!
Ein wenig gewöhnungsbedürftig fand sie es wohl schon, aber irgendwie kann man es irgendwann sogar mögen! Wie interessant, sein Haar einmal in jeder Wachstumsstufe sehen zu können... Und am Ende wird es wieder wunderschön gesund und lang sein.
Martina bekam im Grossen und Ganzen dieselben Orte zu sehen, die auch meine Eltern hier im Sommer schon gesehen hatten. Wie toll wenn man eine Familie hat, die sogar diesen weiten Weg auf sich nimmt, nur um Einen zu besuchen!
Dachte ich am ersten Tag noch Martina hätte die Sonne mitgebracht, wurde ich bald eines Besseren belehrt. Nach wenigen Tagen lag Ende Oktober so viel Schnee in Estland, wie ich ihn seit vielen, vielen Jahren in Deutschland nicht gesehen hatte!
Und genau zu dieser Zeit, hatte Jaak eine wunderbare Idee. Er nahm uns mit, direkt in den Schnee hinein. In ein Stück unberührte Natur, mit einer wundervollen Schneelandschaft, die Niemand durch seine Schritte zerstören konnte. Es war derselbe Ort an dem ich auch mit meinen Eltern gewesen war, dieses kleine Häuschen in dem feuchten Gebiet, in welchem man wegen dem Wasser nur auf einem dünnen Steg herum laufen konnte.
Hier ist noch alles grün... |
Aber nun war alles anders. Friedlich lag die Landschaft da. Die kleinen, alten Bäume waren bedeckt von einer Schneeschicht, so hoch wie der Zeigefinger lang ist. Mühselig war der Weg auf dem Steg entlang, denn da alles von derselben Schneeschicht bedeckt war, konnte man diesen Steg auch nicht von der umliegenden Landschaft unterscheiden.
Der kleine, sonst so hellblaue See, lag nun schweigend, dunkel da und der Kontrast zum graublauen Himmel und strahlend weissen Schnee war atemberaubend. Nur wenige Momente gab es bisher in meinem Leben, in denen ich staunend in der Natur stand und nicht glaubte, was ich dort sah. Aber diese Minuten raubten mir tatsächlich den Atem und ich wusste, meine zwei Begleiter erkannten ebenso die Schönheit dieses Momentes.
Leider kann kein Foto diese Gefühle tatsächlich einfangen.
Dann kamen wir zu dem kleinen Häuschen, welches extra für Wanderer dort eingerichtet ist. Dieses eine Mal wollten wir sogar über Nacht bleiben. Es gab einen Ofen und wir hackten fleissig Holz um die winterliche Kälte zu vertreiben. Es dauerte eine ganze Weile, aber über Nacht wurde es so angenehm kuschelig und warm in der Hütte, dass ich mich rundherum wohl fühlte! Unsere Gespräche waren tiefgründig und angenehm, Essen hatten wir auch mitgenommen und es mangelte an Nichts. Ab und zu mussten wir nur die Tür öffnen und den Rauch heraus lassen um nicht zu ersticken, so richtig perfekt war dieser gutaussehende Ofen wohl nicht gebaut.
Mitten in der Nacht kam uns eine kleine Maus besuchen, die uns ersteinmal einen gewaltigen Schrecken einjagte!! Da ist man zu Dritt in einem einsamen Haus mitten im Wald, umgeben von kilometerlanger Weite, die nächsten Menschen sehr weit entfernt... und da raschelt und knistert es auf einmal in der Dunkelheit. Als wir mit Hilfe der Taschenlampe das kleine Mäuschen ausgemacht hatten, beruhigten wir uns aber wieder und schliefen bald ein. Nur die nächtlichen Toilettenbesuche, bei denen man hinaus in die Dunkelheit und Kälte musste, blieben ein wenig gewöhnungsbedürftig.
Am nächsten Tag liefen wir wieder zurück mit unseren grossen Taschen voller dicker Decken und Klamotten gegen die Kälte. Noch einmal genossen wir die unberührte Landschaft, in welcher nun ein paar Fusstapfen eines morgendlichen Spaziergängers zu sehen waren. So fanden wir wenigstens den Steg.
Die Nachbarin in der Farm ist über 80 und lebt noch immer alleine "auf dem Land". Dinge wie Holz holen, werden in diesem Alter schon ein wenig schwieriger. |
Die letzten paar Tage mit Martina verbrachten wir in der Stadt. Mit dem Zug ging es erst nach "Tartu" und ein paar Stunden später nach Tallinn.
Die "berühmte" Statue in Tartu. Das Wasser spritzt zwar noch immer an das Paar unter dem Regenschirm, aber zur Hälfte sind sie eingefroren im Eis. Ein schönes Bild. |
Jaaks Schwester bot sofort an, wir könnten die paar Tage in Tallinn bei ihnen wohnen und das fand ich unglaublich nett. Sie nahm uns so herzlich und gastfreundlich auf!
Erst als Martina schon in Estland angekommen war, überbrachte ich ihr noch eine weitere überraschende Nachricht: Ich würde mit ihr nach Hause kommen! Weder meine Eltern, noch irgendjemand anders wusste bisher etwas davon und ich wollte es Ihnen auch noch nicht sagen. Ich hatte ja bereits gelernt, dass im letzten Moment immer noch etwas dazwischen kommen könnte...
Ich verabschiedete mich von Jaak, den ich nun für ein paar Monate nicht sehen würde, weil er in Italien die Sonne geniessen wollte. Es war ein unglaublicher Schritt wieder nach Hause zu gehen und ich hatte viele verzweifelte Minuten darüber verbracht, eine Lösung zu finden, was ich denn als nächstes mit meinem Leben anfangen wollte. Nun würde es für mich ersteinmal nach Deutschland zu meiner Familie gehen und von da aus würde ich mir irgendwo auf der Welt einen Job suchen. Irgendwo, wo man eben Erzieher braucht und eine Sprache spricht, die ich verstand. Jaak war es egal, er würde dann dorthin nachkommen, wo ich auch war und versuchen mit mir ein "neues Leben" zu beginnen.
Martina und ich fuhren zusammen mit dem Bus nach Riga, Lettland und wir verbrachten dort eine Nacht im Hostel. Meine lange, zweijährige Reise ging nun langsam zu Ende und ich sog ein letztes mal die abenteuerlichen Gefühle in mich auf, die mich immer an einem solchen Ort der Reisenden erfassen...
Am nächsten Tag stieg ich 2 Stunden vor Martina in meinen neongelben Bus und war erst 24 Stunden später in Berlin. Meine Schwester stieg stattdessen 2 Stunden nach mir in den Flieger und war nach zweieinhalb Stunden in Frankfurt. Mit meinem vielen Gepäck nach 5 Monaten in Estland, wäre diese Variante für mich zu teuer geworden.
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